Biografie
Grete Meisel-Hess, Schriftstellerin und Sexualreformerin, eröffnet als eine der wenigen Frauen um die Jahrhundertwende den Diskurs gegen Antifeminismus und die sexuelle Unterwerfung dieser Zeit.
Sie wächst in einem wohlhabenden jüdischen Elternhaus als Tochter des Prager Fabrikanten Leopold Meisel-Hess und dessen Frau Julie, geb. Freud, auf. Im Alter von zehn Jahren kommt sie zur Ausbildung in das Landerziehungsheim in Prachatitz im Böhmerwald, das nur Kindern der gehobenen Gesellschaft offen steht. 1893 übersiedelt sie mit ihren Eltern nach Wien und schließt hier nach drei Jahren ihre Schulausbildung an der ersten Mittelschule für Mädchen ab. Anschließend ist sie fünf Jahre lang Gasthörerin an der Wiener Universität. Sie besucht Vorlesungen in Philosophie, Soziologie und Biologie.
In dieser Zeit entstehen auch ihre ersten kritischen Schriften zur Frauenfrage. Sie hält Vorträge, veröffentlicht Essays und belletristische Feuilletons, Kritiken etc. in der "Neuen Freien Presse", im "Wiener Tagblatt", in der "Arbeiterzeitung" und in "Dokumente der Frauen" bzw. "Neues Frauenleben". Obwohl sie sich für viele Themen der Frauenemanzipation einsetzt, ist sie kein aktives Mitglied in einem Frauenverein. Im November 1900 appelliert sie in den "Dokumenten der Frau" zur Eröffnung des noblen "Wiener Frauenklubs", "kein engherziges Frauen-Parteithum" zu pflegen, "keinen Chauvinismus in der Frauenbewegung" zu betreiben, da dabei die großen Perspektiven verloren gingen.
1902 erscheint der Roman "Fanny Roth", in dem sie ihre theoretischen Gedanken über die Ehe erzählerisch umgesetzt. Sie tritt für die monogame Ehe ein, hält jedoch die freie Partnerwahl und die Ehe auf Probe für eine notwendige Voraussetzung. Dass damit keine Garantie für eine richtige Lebensentscheidung verbunden ist, zeigt sie an der Geschichte der Violinistin Fanny Roth. Diese gibt ihrem sexuellen Verlangen vor der Eheschließung nach, heiratet ihren Geliebten und muss dann aber erfahren, dass er zwar ein guter Liebhaber ist, aber den geistigen Ansprüchen einer intelligenten Frau nicht gerecht werden kann. Mit ihrer radikalen Position, die in der vorehelichen Beziehung die Voraussetzung zur Selbstfindung junger Menschen sieht, stößt sie naturgemäß auf starke Kritik, da sie die moralischen Werte der damaligen Zeit so offen in Frage stellt.
Engagiert setzt sie sich in ihrem Buch "Weiberhass und Weiberverachtung" (1904) gegen die frauenfeindlichen Thesen und den offenen Antisemitismus von Otto Weiningers fragwürdigem Bestseller "Geschlecht und Charakter" zur Wehr. Von 1908 an lebt Grete Meisel-Hess in Berlin. 1909 heiratet sie den Architekten Oskar Gellert. Im gleichen Jahr erscheint ihre sozialpsychologische Untersuchung "Die sexuelle Krise", der gründliche Recherchen vorausgegangen waren. Hierin vertieft sie ihren theoretischen Ansatz, indem sie als notwendige Voraussetzung für die sexuelle Befreiung der Frau eine Veränderung der Wirtschafts- und Sozialform fordert. Grete Meisel-Hess gehört zu den wenigen Frauen ihrer Zeit, die über die herrschende Sexualmoral und Sexualität einen Diskurs eröffnen.
Die Autorin, die in Schriften wie "Die sexuelle Krise" oder "Das Wesen der Geschlechtlichkeit" (1916) vehement für das sexuelle Glück der Frau eintritt, sieht ebenjenes existenziell durch die schweren Verluste des Krieges, die toten und gefallenen Männer, gefährdet. Ebenfalls 1916, während des Ersten Weltkriegs, schreibt sie in ihrem Werk "Krieg und Ehe": "Eine ungeheure Steigerung der sexuellen Not der Frau ist also vom Krieg zu erwarten, eine Vermehrung tief persönlicher Leiden. Man täusche sich nicht: Das Schicksalsringen einer ganzen Welt um Sein oder Nichtsein macht nicht im geringsten die unermessliche Not, die das einzelne Ich zu tragen hat, geringer und unwesentlicher. Dieses Leid klein zu nennen, bloß weil das allgemeine Leid groß ist, ist Literatur, Papier." Ein Gesichtspunkt der Kriegstragik, der eigentlich auch heute noch wenig Beachtung findet.
In den ersten Berliner Jahren steht sie dem Bund für Mutterschutz nahe, der eine Sexualreform anstrebt und sich gegen die Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft wendet. Nach dem Ersten Weltkrieg wendet sie sich von dieser Position ab und nimmt eine zunehmend konservative Haltung ein, die auch "rassehygienische" Gedanken impliziert. In den letzten Lebensjahren leidet Grete Meisel-Hess an Depressionen, sie stirbt an ihrem "Geburtstag, dem 18. April" 1922 in Berlin.
verwendete Literatur und Quellen:
Budke, Schulze: Schriftstellerinnen in Berlin 1871-1945
Thorson: Confronting anti-semitism and antifeminism in turn of the century Vienna. - In: Jüdische Identitäten, 71 - 94
Lexikoneinträge
biografiA
Meisel-Hess Grete, verh. Gellert, Ps. Diotima; Fachschriftstellerin, Frauenrechtsaktivistin und Sexualreformerin
Geb. Prag, Böhmen (Praha, Tschechien), 18. 4. 1879
Gest. Berlin, Deutsches Reich, 18. 4. 1922
Herkunft, Verwandtschaften: Vater: Leopold Meisel-Hess, Fabrikant; Mutter: Julie, geb. Freud. Wuchs wohlbehütet in einem begüterten Elternhaus auf.
LebenspartnerInnen, Kinder: 1909 Heirat mit dem Architekten Oskar Gellert, die Ehe wurde bald geschieden.
Ausbildungen: Kam mit 10 Jahren in die Erziehungsanstalt in Prachatitz im Böhmerwald. Studium der Philosophie, Soziologie und Biologie an der Universität Wien.
Laufbahn: Kam mit 14 Jahren nach Wien, lebte ab 1908 in Berlin. G. M.-H. setzte sich seit
der Jahrhundertwende in ihren theoretischen Publikationen detailliert und kritisch mit der
„sexuellen Frage“ auseinander: Mutterschaft und Mutterschutz, Bevölkerungspolitik und Rassenhygiene, Prostitution und Doppelmoral, moralische Entwürfe von Liebe und Ehe. Sie rezipierte kritisch Vertreter der Sexualwissenschaft wie Krafft-Ebing, Freud und vor allem Weininger. G. M.-H. war in der Mutterschutz- und Sexualreformbewegung aktiv, ging hierin aber nicht mit allen Forderungen und Utopien der darin vertretenen Frauen konform. Sie setzte vielfach Momente einer sexuellen Ethik gegen die Ideologie der freien Liebe. Verfasste auch Gedichte, Novellen, Romane und kritische Essays zur Frauenemanzipation. Schrieb Beiträge für die „Neue Freie Presse“, das „Wiener Tagblatt“, und die „Arbeiter-Zeitung“.
W. u. a.: „Generationen und ihre Bildner. Ein Essay“ (1900), „Suchende Seelen. Drei Novellen“ (1903), „Weiberhaß und Weiberverachtung. Eine Erwiderung auf die in Dr. Otto Weiningers Buche ‚Geschlecht und Charakter‘ geäußerten Anschauungen über die ‚Frau und ihre ‚Frage‘ “ (1904), „Die sexuelle Krise. Eine sozial-psychologische Untersuchung“ (1909), „Sexuelle Rechte“ (1912), „Hebbel und die Frauen. Die neue Generation“ (1913), „Betrachtungen zur Frauenfrage“ (1914), „Das Wesen der Geschlechtlichkeit. Die sexuelle Krise in ihren Beziehungen zur sozialen Frage und zum Krieg, zu Moral, Rasse und Religion und insbesondere zur Monogamie. 2 Bde.“ (1916), „Die Bedeutung der Monogamie“ (1917), „Die Ehe als Erlebnis“ (1921)
Deutsch-österreichisches Künstler- und Schriftstellerlexikon
MEISEL-HESS Grete, XVIII. Cottage, Lazaristengasse 32, geb. Prag, 18. April 1879, studirte nach absolvirter Bürger- und Fortbildungsschule an der Universität; verfasste die Novelle "Das Leid"; "Ein Blick in die Zukunft der Frauenbewegung" (bei der Preisconcurrenz der "Oesterr. Volkszeitung" lobend erwähnt), "Generationen und ihre Bilder", "In der modernen Weltanschauung", ferner Essays, belletristische Feuilletons, Kritiken und actuelle Artikel in: "Neue Freie Presse", "Wiener Tagblatt", "Arbeiterzeitung", "Dokumente der Frauen" etc.
Budke, Schulze: Schriftstellerinnen in Berlin 1871-1945
Meisel-Hess, Grete
verh. Gellert
* 18.4.1879 in Prag
+ 18.4.1922 in Berlin
Romane, Novellen, Essays
Grete Meisel-Hess wuchs in einem wohlhabenden jüdischen Elternhaus als Tochter des Prager Fabrikanten Leopold Meisel-Hess [sic!] und dessen Frau Julie, geb. Freud, auf. Als sie zehn Jahre alt war, kam sie zur Ausbildung in das Landerziehungsheim in Prachatitz im Böhmerwald, das nur Kinder der gehobenen Gesellschaft besuchten. 1893 siedelte sie mit ihren Eltern nach Wien über und schloß dort nach drei Jahren ihre Schulausbildung an der ersten Mittelschule für Mädchen in Wien ab. Die damalige Mittelschule entsprach dem heutigen Gymnasium. Grete Meisel-Hess hatte somit als Frau für ihre Zeit eine privilegierte Ausbildung genossen. Anschließend war sie fünf Jahre lang Gasthörerin an der Wiener Universität. Sie besuchte Vorlesungen in Philosophie, Soziologie und Biologie. In dieser Zeit entstanden ihre ersten kritischen Schriften zur Frauenfrage. Engagiert setzte sie sich in ihrem Buch "Weiberhaß und Weiberverachtung" (1904) gegen die frauenfeindlichen Thesen von Otto Weininger zur Wehr. 1902 war der Roman "Fanny Roth" erschienen, in dem sie ihre theoretischen Gedanken über die Ehe erzählerisch umgesetzt hatte. Sie trat für die monogame Ehe ein, hielt jedoch die freie Partnerwahl und die Ehe auf Probe für eine notwendige Voraussetzung. Daß damit keine Garantie für eine richtige Lebensentscheidung verbunden ist, zeigte sie an der Geschichte der Violonistin Fanny Roth. Diese gibt ihrem sexuellen Verlangen vor der Eheschließung nach, heiratet ihren Geliebten und muß dann erfahren, daß er zwar ein guter Liebhaber ist, aber den geistigen Ansprüchen einer intelligenten Frau nicht gerecht werden kann. Mit ihrer radikalen Position, die in der vorehelichen Beziehung die Voraussetzung zur Selbstfindung junger Menschen sah, stieß sie auf starke Kritik, da sie die moralischen Werte so offen in Frage stellte. In ihrem Roman "Die Intellektuellen" (1911) thematisierte sie das Spannungsverhältnis zwischen Selbstbefreiung und Selbstversklavung großstädtischer Intellektueller. von 1908 an lebte Grete Meisel-Hess in Berlin. 1909 heiratete sie den Architekten Oskar Gellert. Im gleichen Jahr erschien ihre sozialpsychologische Untersuchung "Die sexuelle Krise", der gründliche Recherchen vorausgegangen waren. Hierin vertiefte sie ihren theoretischen Ansatz, indem sie als notwendige Voraussetzung für die sexuelle Befreiung der Frau eine Veränderung der Wirtschafts- und Sozialform forderte. Grete Meisel-Hess gehörte zu den wenigen Frauen ihrer Zeit, die über die herrschende Sexualmoral und Sexualität schrieben. Zunächst stand sie dem Bund für Mutterschutz in Berlin nahe, der eine Sexualreform anstrebte und sich gegen die Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft wandte. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte sie sich von dieser Position ab und nahm eine zunehmend konservative Haltung ein, die "rassehygienische" Gedanken implizierte. In den letzten Lebensjahren litt Grete Meisel-Hess an Depressionen, sie starb 1922 in Berlin.
Österreichisches biographisches Lexikon
Gellert Grete, geb. Meisel-Hess, Ps. Grete M.-H., Dichterin und Schriftstellerin. * Prag, 18. 4. 1879; + Berlin, 18.4.1922. Tochter eines Fabrikanten, wuchs in Wien auf, stud. Phil., Soziologie und Biologie an der Univ. Wien, lebte seit 1908 in Berlin. Trat mit Romanen, Novellen und grundlegenden Schriften für Individualismus, Frauenrecht und Sozial- und Sexualreformen ein.
Lexikon der Frau
Meisel-Hess (Gellert), Grete, dtsch. Schriftst., Vorkämpferin einer neuen Sittlichkeit, *Prag 19.4.1879, +Berlin 18.4.1922. Verh. 1909 mit Architekt Oskar Gellert. Unbedingte Vertreterin der Einehe u. Gegnerin der sogen. doppelten Moral, die sie als Auswirkung sozialer Unfreiheit ansieht. Setzt sich auch mit Weiningers affektgeladener Schrift "Geschlecht u. Charakter" kritisch auseinander.