Biografie
Anna Schapire wurde am 1877 als jüngste von fünf Töchtern eines Kaufmannes und einer Gutsbesitzerin in Brody, Galizien geboren. Die Kinder erhielten häuslichen Schulunterricht, wobei insbesondere auf eine vielseitige sprachliche Bildung - Deutsch, Französisch, Polnisch und Russisch - wertgelegt wurde. 1895 übersiedelte Anna Schapire nach Hamburg und besuchte dort eine Handelsschule. Wie ihre Schwester Rosa war sie als Kontoristin tätig und wurde gewerkschaftspolitisch aktiv. Durch Vorträge und Veröffentlichungen fielen die Schwestern der Hamburger Politischen Polizei auf und Anna Schapire wurde im Juli 1898 aus Hamburg ausgewiesen.
1899 begann sie ein Studium an dem mit der Sorbonne verbundenen Collège libre de sciences sociales in Paris, wechselte 1900 für zwei Semester nach Bern und anschließend bis 1902 nach Wien. Sie studierte Philosophie, Literaturwissenschaften und Volkswirtschaftslehre. Nach drei Semestern als außerordentliche Hörerin in Berlin, während derer sie auch ihren „neoromantischen“ Lyrikband „Singende Bilder“ (1903) publizierte, kehrte sie 1905 zurück nach Bern, wo sie 1906 bei dem Ökonomen August Oncken promovierte. Ihre Dissertation trägt den Titel „Der Arbeiterschutz und die Parteien im deutschen Reichstag“.
Zurück in Wien heiratete Anna Schapire am 22. November 1907 ihren ehemaligen Kommilitonen den Ökonomen Otto Neurath, mit dem sie auch die Studienzeit in Berlin verbracht hatte. Sie starb am 12. November 1911 wenige Wochen nach der Geburt ihres Sohnes Paul Neurath. Mit Otto Neurath verband sie auch die gemeinsame Arbeit, woraus zwei sozialwissenschaftliche Publikationen und die erste Übersetzung von Francis Galtons "Hereditary Genius" hervorgingen.
Anna Schapire-Neurath betätigte sich ab 1897 vielseitig als Übersetzerin, politische Journalistin, Prosaautorin und Sozialwissenschaftlerin. Ihr Werk umfasst rund 50 Publikationen. Sie gehörte zu den sozialistisch orientierten Feministinnen um 1900 und ihr Standpunkt war stark vom Marxismus geprägt. Neben der Beschäftigung mit dem zeitgenössischen Antifeminismus machte sie das Thema Frauenarbeit zu einem Schwerpunkt ihrer Auseinandersetzung mit der „Frauenfrage“. Bereits in Hamburg setzte sie sich für streikende Arbeiterinnen ein und publizierte in Wien regelmäßig Artikel, unter anderem in der "Arbeiterinnen-Zeitung" und der Zeitschrift "Neues Frauenleben". In ihrer 1908 erschienen Schrift „Die Frau und die Sozialpolitik“ plädierte sie für einen ausgeweiteten Arbeiterinnenschutz, der gleiche Löhne und Berufsvorbereitungen, eine Mutterschaftsversicherung, Halbtagsschichten, Haushaltsgenossenschaften und eine bessere gewerkschaftliche Organisation für Frauen gewähren sollte. Ab 1898 hielt sie mehrere Vorträge in Wien, unter anderem in der Vereinigung der arbeitenden Frauen, im Verein kaufmännischer Angestellter und im Frauenverein Diskutierklub, dessen Mitglied sie auch war.
Neben den sozialwissenschaftlichen Artikeln und Monographien weisen auch Anna Schapire-Neuraths Kurzprosatexte eine Auseinandersetzung mit der sozialen Situation von Frauen auf. Die Erzählungen „Sterka“ (1900), „Lorsqu’on est fille de brasserie“ (1901) und „Meine Tante Chane“ (1907) handeln von der Unterdrückung durch soziale Verhältnisse und gesellschaftliche Normen, die die Protagonistinnen in Armut, Einsamkeit oder den Freitod treibt.
verwendete Literatur und Quellen:
Rosa und Anna Schapire
Schapire-Neurath: Die Frau und die Sozialpolitik
Lexikoneinträge
biografiA
Neurath Anna, geb. Schapira, Schapire, Schapire-Neurath; Schriftstellerin, Sozialarbeiterin und Übersetzerin
Geb. Brody, Galizien (Ukraine), 13. 9. 1877
Gest. Wien, 12. 11. 1912
LebenspartnerInnen, Kinder: 1907 Heirat mit Otto Neurath (1882–1945), Philosoph, Soziologe und Bildungspolitiker.
Ausbildungen: Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Nationalökonomie an den Universitäten Bern, Berlin und Wien, 1906 Promotion zum Dr. phil. in Bern.
Laufbahn: A. N. verließ früh ihre Heimat und lebte in verschiedenen Ländern Ost-, Mittelund Westeuropas, wodurch sie umfassende Fremdsprachenkenntnisse erwarb. Sie unterstützte ihren Mann bei dessen wissenschaftlichen Arbeiten. A. N. veröffentlichte 1900 Lyrik, später trat sie als Prosaschriftstellerin und Übersetzerin aus dem Russischen, Polnischen, Englischen und Französischen hervor. Aus ihrem eigenen schriftstellerischen Werk sind vor allem literaturkritische und sozialpolitische Skizzen sowie Abhandlungen zu nennen. A. N. interessierte sich sehr für die Frauenbewegung und trat in zahlreichen Aufsätzen für höhere Bildung und entsprechenden beruflichen Einsatz der Frauen im Geistes- und Kulturleben ein.
W. u. a.: „Singende Bilder. Gedichte“ (1903), „Arbeiterschutz und die politischen Parteien in Deutschland. Phil. Diss.“ (1906), „Zu Hebbels Anschauungen über Kunst und künstlerisches Schaffen“ (1907), „Frau und Sozialpolitik. In: Kultur und Fortschritt“ (1908), „Die Vorgeschichte der modernen Frauenbewegung im 18. Jahrhundert“ (1909), „Abriß der Geschichte der Frauenbewegung“ (1909), „Hg.: Lesebuch der Volkswirtschaftslehre, gem. mit Otto Neurath“ (1910). Übersetzungen u. a.: „Gorki, Maxim: Gram. Übersetzung aus dem Russischen“ (1902), „Galton, Francis: Genie und Vererbung. Übersetzung von Otto Neurath und Anna Schapire-Neurath“ (1910), „Kulczycki, Ludwik: Geschichte der russischen Revolution. 3 Bde., Übersetzung aus dem Polnischen“ (1910 –14)
Österreichisches biographisches Lexikon
Neurath Anna, geb. Schapire, Schriftstellerin und Sozialarbeiterin. * Brody (Galizien), 13. 9. 1877; + Wien, 12. 11. 1911. Gattin des Otto Neurath, Schwiegertochter des Nationalökonomen Wilhelm N.; verließ frühzeitig ihre Heimat und lebte in verschiedenen Ländern Ost- Mittel- und Westeuropas, wodurch sie umfassende Fremdsprachenkenntnisse erwarb. Nach philosoph., literar. und nationalökonom. Stud. an der Univ. Wien, Berlin und Bern 1906 Dr.phil. 1907 heiratete sie den Nationalökonomen Otto N., den sie bei seinen wiss. Arbeiten unterstützte. N. veröff. bereits 1900 gefühlsbetonte Lyrik, später trat sie als Prosaschriftstellerin sowie als Übersetzerin aus dem Russ., Poln., Engl. und Französ. hervor. Aus ihrem eigenen schriftsteller. Werk sind vor allem literaturkrit. und sozialpolit. Skizzen und Abhh. zu nennen. Sie interessierte sich sehr für die Frauenbewegung und trat in zahlreichen Aufsätzen für höhere Bildung und entsprechenden beruflichen Einsatz der Frauen im Geistes- und Kulturleben ein.
Ausgewählte Publikationen
Quellen und Sekundärliteratur
Material in Archiven und Sammlungen
- Briefe und Ansichtskarte von Christine Touaillon und Anna Schapire-Neurath an Auguste Fickert - In: WBR/HS, Nachlass Auguste Fickert, H.I.N. 71074, H.I.N.-71075, H.I.N.-71076, H.I.N.-71131 1908-1911