Funktionen und Mitgliedschaften
Biografie
Helene Deutsch kommt am 9. Oktober 1884 als Tochter des jüdischen assimilierten Rechtsanwalts Wilhelm Rosenbach und seiner Frau Regina geborene Leizor in Przemysl in Galizien zur Welt. Ihr Geburtsort gehört damals noch zu Österreich-Ungarn, später jedoch zu Polen. Sie wächst in einem liberalen Elternhaus, sowohl deutsch- wie auch polnischsprachig auf. Die Erlangung einer höheren Bildung muss sie sich gegen den Willen der Eltern dennoch erkämpfen – sie erhält Privatunterricht um sich auf die Reifeprüfung vorzubereiten.
Als 14-Jährige wird Helene Rosenbach die Geliebte des wesentlich älteren und verheirateten polnischen Strafverteidigers und Sozialistenführers Hermann Liebermann, der ihr Interesse für die Politik weckt. 1907 und 1911 wird Hermann Liebermann zum Abgeordneten der XI. und XII. Legislaturperiode des österreichischen Abgeordnetenhauses gewählt. Helene Rosenbach nimmt bereits damals an Demonstrationen teil und gründet 1905 die erste Organisation für Arbeiterinnen in Przemysl. 1907 legt sie die Prüfung für das Abitur ab, für die sie damals als Frau noch eine Sondergenehmigung benötigte. Ab 1907 studiert sie als eine der ersten Frauen an der medizinischen Fakultät der Universität Wien. 1911 geht Helene Rosenbach nach München, um experimentelle Psychologie bei Ernst Kraepelin zu studieren – in diesem Jahr beendet sie auch die Beziehung zu Liebermann.
In Wien lernt sie den jüdischen Internisten und späteren Psychoanalytiker Felix Deutsch kennen, den sie 1912 heiratet. 1917 kommt ihr Sohn Martin Deutsch zur Welt, der später Experimentalphysiker am MIT, Massachusets werden sollte. Nach ihrer Promotion praktiziert Helene Deutsch von 1912 bis 1918 als unbezahlte Assistenzärztin an der Wagner-Jauregg-Klinik für Psychiatrie in Wien und leitet dort während des Ersten Weltkriegs die psychiatrische Frauenabteilung.
1918 beginnt Helene Deutsch eine einjährige Analyse bei Sigmund Freud. Bald gilt sie als dessen Lieblingsschülerin und eine der Ersten, die sich der Psychoanalyse des Weiblichen widmet - noch im gleichen Jahr wird sie Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. In den 1920er und 1930er Jahren widmet sie sich neben ihrer analytischen Praxis einer intensiven Vortrags-, Lehr- und Publikationstätigkeit. 1923/24 absolviert sie eine weitere Analyse bei Karl Abraham in Berlin und verfasst ihr erstes Buch “Zur Psychologie der weiblichen Sexualfunktionen“, eine Vorarbeit für ihr Hauptwerk über die „Psychologie der Frau“. In diesem entwirft sie anhand von Fallgeschichten, literarischen Beispielen und ihrer Selbstanalyse eine normative Typologie der Frau. Beruhend auf Freuds Unterscheidung von männlicher Aktivität und weiblicher Passivität, entwickelt Helene Deutsch ihre These vom weiblichen Masochismus – wofür sie von Zeitgenossinnen und späteren Feministinnen massiv kritisiert wird. Die deutsch-amerikanische Psychoanalytikerin Karen Horney wird zu ihrer Hauptkontrahentin in dieser Frage. Die Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir dagegen benutzt sie neben Freud als wichtigste psychoanalytische Quelle ihres Werkes „Le deuxième sexe“.
Dank ihres Einsatzes wird 1925 das Ausbildungsinstitut der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung gegründet, dessen Präsidentin Helene Deutsch bis zu ihrer Emigration ist. Noch in Österreich ist sie eine sehr gefragte Lehranalytikerin. Neben ihren Arbeiten über die weibliche Sexualität beschäftigt sich Helene Deutsch auch mit der Kinderanalyse, den Problemen von Jugendlichen und Persönlichkeitsstrukturen.
1934 entschließt sich Helene Deutsch zur Emigration in die USA, ihr Mann folgt ihr ein Jahr später. Sie lassen sich in Boston nieder, wo Helene Deutsch Mitglied und Lehranalytikerin des Boston Psychoanalytic Institute wird. Sie eröffnet eine psychoanalytische Privatpraxis und arbeitet an der von Stanley Cobb geleiteten psychiatrischen Klinik des Massachusetts General Hospital. Sie publiziert bis ins hohe Alter und erregt noch Anfang der 1970er Jahre Aufsehen, als sie im weißen Arztkittel an einer Anti-Vietnam-Demonstration teilnimmt. Helene Deutsch stirbt mit 97 Jahren in Cambridge. Im neunten Wiener Gemeindebezirk gibt es ihr zu Ehren den Helene-Deutsch-Park.
verwendete Literatur und Quellen:
Lexikoneinträge
biografiA
Deutsch Helene, geb. Rosenbach; Psychoanalytikerin und Psychiaterin
Geb. Przemysl, Galizien (Polen), 9. 10. 1884
Gest. Cambridge, Massachusetts, USA, 29. 3. 1982 (29. 4.)
Herkunft, Verwandtschaften: Mutter: Regina Leizor; Vater: Wilhelm Rosenbach, Rechtsanwalt; vier ältere Geschwister: zwei Schwestern, ein Bruder.
LebenspartnerInnen, Kinder: Mit dem Sozialdemokraten Hermann Liebermann liiert, die Verbindung musste jedoch geheim bleiben, später verheiratet mit Felix Deutsch, Internist, ein Sohn.
Ausbildungen: Besuchte zwei Jahre lang eine private Mädchenschule in Przemysl, anschließend in Lemberg. Ein Semester in Zürich, wo sie Soziologievorlesungen an der Universität hörte. Medizinstudium in Wien und München, 1912 Promotion an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien, psychoanalytische Ausbildung bei Sigmund Freud, 1923 Lehranalyse in Berlin bei Karl Abraham.
Laufbahn: Veröffentlichte kunsthistorische Aufsätze und betätigte sich als Lokaljournalistin, politisches Engagement. 1912 –18 unbezahlte Assistenzärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Wien, Mitarbeit an der Kinderklinik; 1918 Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Schülerin und Analysandin Sigmund Freuds, arbeitete zur Theorie der weiblichen Sexualität, 1924 Aufbau des Wiener Ausbildungsinstitutes für Psychoanalyse, 1925–34 erste Vorsitzende des Lehrinstituts der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, 1932 Leiterin des Technischen Seminars der Vereinigung, Nachfolgerin Wilhelm Reichs. Emigrierte 1934 in die USA. In Boston Mitglied und Lehranalytikerin der Boston Psychoanalytic Society and Institute, Psychiaterin am Massachusetts General Hospital. Arbeitete ab 1964 hauptsächlich mit Jugendlichen. Menninger Award der American Psychoanalytic Association. H. D. ist eine der wichtigsten Frauen in der Geschichte der Psychoanalyse, man schätzte sie als Schülerin Freuds, als Theoretikerin der weiblichen Sexualität, der Neurosenlehre und der Charakterpathologie ebenso wie als Lehranalytikerin.
W.: „Zur Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen“ (1925), „Psychoanalyse der Neurosen. Elf Vorlesungen gehalten am Lehrinstitut der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ (1930), „Neuroses and character types: Clinical psychoanalytic studies“ (1965), „Selected Problems of Adolescence“ (1967), „A psychoanalytic study of the myth of Dionysos and Apollo“ (1969), „Selbstkonfrontation. Eine Autobiographie“ (1975)
Ausgewählte Publikationen
Quellen und Sekundärliteratur
Material in Archiven und Sammlungen
- SchlesLib, Helene Deutsch Papers MC 578